Ate

"große Schwester"

Stellen Sie sich eine Wiese vor. Auf ihr steht eine Kuh. Um die Kuh
herum stehen fünf Mädchen, eine hält ihren Schwanz hoch, zwei halten
einen Becher unter ihren Euter und ziehen kräftig, die vierte
streichelt ihren Kopf, während die fünfte einfach nur schweigend dabei
steht.

Stellen Sie sich vor wie Sie näher treten, den Kids zurufen: „What are
you doing?“ und mit einem frechen Grinsen zurück geschleudert bekommen:
„Milk, Ate. You wanna try?“

Und so sitzen Sie da. Unter dem Kuhhintern und probieren mit ihrem
letzten bisschen Würde Milch aus dem Euter zu quetschen.

Willkommen, Willkommen bei Bahay Tuluyan in Lauguna, einem Ort wo 43
ehemalige Straßenkinder, beziehungsweise Kinder aus schwierigen
Verhältnissen (Mädchen, Jungen wohnen in einem anderen Center) in fünf
Häusern zusammen wohnen, leben und lachen.

Einem Ort an dem kuscheln und umarmen zum Tagesprogramm gehört, Kinder
einem klar sagen was sie wollen und man beim Essen zu hören bekommt:
„Eat with your hand Ate! Philippino style!“

Ate, das sind wir, die großen Schwestern auf Zeit, die mit den Mädchen
gemeinsam Reis essen, herum toben und sich auf dem Boden sitzend
Jackson (philippinisches Spiel mit Sternchen und Flummi) beibringen
lassen.

Wir sind die Schwestern, die mit ihnen lachen, ihren in gebrochenem
Englisch erzählten Geschichten zuhören, und ihnen mit einstweiligen
panischen Ausrufen versuchen, die Läuse vom Kopf zu sammeln.

„Ate“ ein Ruf, oftmals über viele Meter gebrüllt, der uns jetzt schon
so vertraut ist, wie unsere eigenen Vornamen.

„Ate“ schallte es aus einzelnen Fenstern der fünf Wohnhäusern, wenn wir
über das Gelände laufen - immer auf der Hut nicht in Kuhscheiße zu
treten oder von einer der Rinder angefallen zu werden - um zwei unserer
„Schützlinge“ zur Nachhilfe zu holen.

Die anfänglich kritischen Mienen beim Wort „Lessons“, haben sich in
vor Übermut und Motivation strahlende Gesichter gewandelt und nicht
selten wird uns hinterher gebrüllt: Ate worksheet?“

Das offensichtlichste Resultat unserer Arbeit erleben wir, als es
morgens eine halbe Stunde vor Arbeitsbeginn an der Tür klopft und eines
der Mädchen mehr als beharrlich nach Mathearbeitsblättern verlangt.
Weder ein „maybe after breakfast“ noch ein „you have to wait for one
hour.“ schrecken sie ab. „It’s okay, I can wait.“ sagt sie nur.

Warten - das ist die andere Seite der Medaille hier.

Philippinos brauchen Zeit, viel Zeit, manchmal sehr viel Zeit.

So kommen wir zum vereinbarten 10-Uhr-Meeting zum Büro der Chefin,
welche dann um 11 Uhr für uns Zeit hat.

Wir warten eineinhalb Stunden an einem ausgemachten Treffpunkt, ehe es
losgeht.

Am deutlichsten zeigt sich unser unterschiedliches Verständnis von
Arbeitsintensität und Zeit am „Warte-Tag“.

Wir sind wie immer um zehn Uhr bereit zum arbeiten, sollen dann aber
bis zu einem Meeting um ein Uhr warten und danach auf die Kinder
aufpassen. Wir warten also bis halb zwei, bekommen dann gesagt dass
sich das Meeting ca. um eine halbe Stunde verschiebt. Wir warten also
bis zwei. Bis drei. Bis vier. Bis fünf. Bis sechs. Bis uns auffällt,
dass wir nun sowieso Feierabend haben und es wenig Sinnvoll ist nun
noch auf Arbeit zu warten.

Es ist dieser „Philippino way of Life“, an den es sich zu gewöhnen gilt
- was für uns nicht selten eine Herausforderung darstellt.

„The Philippino way of Life.“:

Dinge planen und sie nie einhalten, nicht klar äußern was man möchte,
Volunteers zwingen nur lange Klamotten zu tragen (keine Piercings, kein
Alkohol, keine Zigaretten), während jeder andere in den kürzesten
Sachen herum läuft. (Kein Wunder bei 30°C im Schatten.)

Eine Gesellschaft, die der Homosexualität weit offener entgegen sieht,
als die gesamte europäische und bei einem normalen Dorffest, wie
selbstverständlich „Miss Gay“-Wahlen einbaut, aber so katholisch ist,
dass selbst ein normales Mitarbeitermeeting nicht ohne vorangestelltes
langes Gebet ablaufen darf.

Wie weit der kirchliche Glaube bei den Philippinos geht, zeigt sich
uns in der Osterwoche („holy week“)

Bei einem ursprünglich für Sonntag geplanten Event, sollen wir nun am
Dienstag mit einigen der Hausmüttern, die gesamte Gruppe der Mädchen im
Alter von vier bis achtzehn Jahren, zu sieben Kirchen begleiten.

Das Ziel der Aktion soll sein in vierzehn Schritten (zwei längere
Gebete pro Kirche) die Kreuzigung Jesu nach zu vollziehen.

Anstatt wie geplant um neun Uhr zu starten, setzt sich unser Jeepny
(philippinisches Transportmittel) um elf Uhr in Bewegung.

Nach einem ausgiebigen Mittagspicknick, starten wir dann zur ersten
Kirche um halb drei. Die ersten zwei Kirchen werden noch mit allen
Kindern besucht, bei den restlichen sind die kleineren Kinder schon im
Jeepny eingeschlafen und auch die Hausmütter unterhalten sich lieber
vor der Kirche, als drinnen ihre Gebete zu sprechen.

So dezimiert sich die Zahl der Zuhörer und beim letzten Gebet in der
letzten Kirche halten wir beide halb schlafende Kinder in den Armen.
Unsere Versuche sie zur Aufmerksamkeit zu motivieren scheitern
kläglich. Es ist mittlerweile sechs Uhr abends.

Fast sind wir froh Ostern hinter uns zu lassen, denn das Verbot der
Centermanagerin mit den Kindern in der Zeit lustige Spiele zu spielen,
macht uns doch etwas zu schaffen.

Und so finden wir uns langsam in dieser absurden Welt zurecht, wandeln
zwischen den Emotionen, die so viele Kinder mit teilweise schrecklichen
Geschichten in uns auslösen und fühlen uns wie zu Hause, während ein
Kind hinter uns unseren neuen Namen ruft: „Ate!“

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