Vortrag: Dr. Norbert Giovannini am 9. Nov. 2024

Stufen der Enthemmung: Gewalt und Entwertung im Kontext des Novemberpogroms 1938.

Meine sehr verehrten Damen und Herrn,

Es wäre mehr als eigenartig, wenn wir heute, am Gedenktag an die Novemberpogrome 1938, den Blick nur zurück richten würden auf das, was damals, 1938, in der Nacht vomauf den 10. Oktober geschehen ist. Wir spüren förmlich, wie nah uns diese Geschichte istund wie vieles vom Damaligen wieder präsent zu sein scheint. Nahe sind die Übergriffe und Attacken der letzten Jahre, auf Flüchtlingsheime, Synagogen, Gedenkstätten, nahe geht unsdie Hetze, die zügellose Demagogie, der offene und unverstellte Hass gegen jüdische Menschen und ihre Gemeinschaften, gegen Minderheiten, Flüchtende, Asylsuchende, Zuwanderer, queere Menschen. Nahe geht uns die auf die Straße getragene Identifikation mit dem Krieg von Hisbollah, Hamas und der vom Iran geführten Koalition gegen die Existenz Israels, die unbegreifliche Legitimierung der Kriegsführung Russlands in der Ukraine und anderswo. Wir spüren die Zeitenwende in den menschenfeindlichen Verbalexzessen und öffentlichen Selbstpräsentationen der neuen Rechten, die sich in der Mitte der Gesellschaft erfolgreich eingenistet haben. Wir spüren, wie nah das rückt, was am 9. November 1938, vor 86 Jahren, Wirklichkeit wurde. Und gleichzeitig sind wir gottseidank noch weit entfernt davon.

Der Vorsitzende des Rohrbacher Stadteilvereins hat soeben in großer Klarheit die aktuellen Konfliktlinien dargestellt, die sich an den Kriegshandlungen im Nahen Osten entzünden, aber nicht minder die Situation der bei uns lebenden jüdischen Menschen dramatisch belasten. Im Blick zurück auf die Ereignisse im November 1938 will ich dem Gedenken aber einen sehr speziellen Akzent geben. Damals wie heute erleben wir Hass, unbändigen Hass und die zunehmende Bereitschaft, alle zivilisatorischen Standards beiseite zu räumen. Es ist nicht nur eine spezielle Partei, die Tabus und Hemmungen gegenüber dem Sagbaren und Unsagbaren beiseite räumt. Was uns Sorgen und Bedenken machen muss, ist die Bereitschaft, sich ganz offen und unverstellt autoritären, rechten und militanten Optionen gesellschaftlich, mental und politisch zu verschreiben.

Zwei Fragen bewegen uns. Was können wir dagegen tun? Und die zweite Frage: Was war – und was ist heute vielleicht auch die Voraussetzung dafür, dass Gewaltexzesse und ein militantes Vernichtungskonzept wieder zur Geltung kommen. Was ist damals in den Menschen passiert, die in der sog. „Kristallnacht“ bedenkenlos zerstörten, vernichteten, draufschlugenvund niederbrannten? Was hat die schleichende und dann so machtvolle, barbarische Entwicklung in Gang gesetzt, in Gang gehalten, die irgendwann nicht mehr umkehrbar war. Woher die Bereitschaft zu brutalen Exzessen, zu Gewalt, Enthemmung. Und was wären die Bedingungen dafür, dass alles das heute und in Zukunft wieder möglich sein wird?

Natürlich glauben wir alle nicht, dass das aus dem Nichts gekommen ist. Oder in einem Schnellverfahren implementiert wurde. Wir wissen und ahnen, dass dem lange Entwicklungsprozesse zugrunde lagen. Eben kein Gewaltausbruch, sondern das Ergebnis eines Kontinuums.

Die Basis von allem ist – das ist die These – eine wirkungsmächtige und fatale Tradition der systematischen Entwertung von Menschen. Betroffen und gemeint sind Menschengruppen, die als Kollektive erfasst und verfolgt wurden. Kollektive, die rassistisch benannt und identifiziert wurden, als Minderheiten, als Außenseiter, als Minderwertige, die stigmatisiert, jeden Schutzes beraubt und zur Verfolgung in allen barbarischen Varianten freigegeben wurden. Diese Entwertung, die aus Herabstufung und Wertlosmachung besteht, gründet in der Neuzeit in den Untiefen der Rasselehren des 19. Jahrhunderts. Sie hatte und hat ihren aber schließlich maßgeblichen Ort in der kolonialistischen Praxis, dem imperialistischen Beherrschungswillen, in den hassgetriebenen Nationalismen und deren kriegerischen Exzessen. Geschichtlich reicht diese Entwertung unendlich viel weiter zurück. Lange Traditionen, sorgfältig gepflegt und zu stabilen Ideologien geronnen, sind imstande, Kultur, Vernunft, Moral, Tabus und Hemmungen hinweg zu spülen. Träger dieser Prozesse sind brave, kultivierte und etablierte Bürger, die sprachmächtig und aus tiefer, auch emotional tiefer Überzeugung aus Mitmenschen „Untermenschen“ machen, Kategorien der wertvollen, überlegenen, ebenso minderen, „nichtwertigen Rassen“ zur Anwendung bringen. Die Welt ist in dieser Sicht neben den genuin Herrschenden von jenen besiedelt, die man hemmungslos ausbeuten, demütigen und schließlich ungehindert liquidieren kann.

Die NS-Epoche – in besonderer Verdichtung – zeigte überdeutlich, das das nur geht, wenn die Entmenschlichung eines Teils der Gesellschaft tatsächlich stattfindet. Also nicht nur ideologisch und propagandistisch, sondern als Teil einer Wirklichkeit, physisch spürbar, im Denken verankert, in der Sprache, materiell wirksam und emotional im tiefen Empfinden der Akteure verankert. Man muss hassen, Widerwille, Ekel, Abscheu empfinden. Dann kann man „die Anderen“ wie Ungeziefer vernichten.

Wir werden uns darauf einstellen müssen, dass diese Prozesse der Entwertung wieder und mehr das kulturelle Klima auch bei uns bestimmen werden. Dass hinfort nichts mehr tabu ist. Lügen zu Varianten der Wahrheit werden. Rassismus ein legitimes Denkmuster ist. Beschimpfungen, Abwertung, Häme und Hetze sind längst in den Sprachmodus des Alltags übergegangen.

Aber weil das so möglich erscheint, wird auch die Einsicht wachsen, dass wir jetzt und nachdrücklich den Wert unserer Gesellschaft, dass wir Würde, Menschenrechte und Solidarität – bei aller berechtigten Kritik – offensiv verteidigen müssen. Dem Geschäft der Zerstörer und Selbstzerstörer müssen wir im Ansatz das Handwerk legen.

Ein Blick zurück:

Mit dem Boykott gegen Geschäfte jüdischer Inhabern (Es gibt keine „jüdischen“ Geschäfte) am 1. April 1933 und der Bücherverbrennung am 10. Mai, in Heidelberg 17. Mai 1933, den Verhaftungen politischer Gegner des NS-Regimes, Kommunisten, Sozialdemokraten, Liberalen, den folgenden barbarischen Gerichtsurteilen und Hinrichtungen, begann eine Spirale der Gewalt. Diese Spirale war nicht singulär in der damals nicht weniger als heute zerrissenen Welt. Sie folgte nicht einmal einem Masterplan, wie oft suggeriert wurde. Die polyzentrischen Machteliten des NS-Systems radikalisierten sich wechselweise und exekutierten schließlich in einzigartiger Weise ein tödliches, politisch und rassistisch fundiertes Vernichtungsprogramm.

Die Pogrome des November 1938 im „Reich“, in Österrreich und Böhmen, sind Kipppunkte dieser Radikalisierung, weil sie die Vernichtungsabsicht ungeschminkt offenbarten. Was in dieser Nacht losgetreten wurde, führte ab 1941 in die Ghettos und Lager im Osten und zu den Massentötungen, dem Holocaust, und die Massaker an Menschengruppen, die zu liquidierbaren Kollektiven geworden waren: Behinderte, Homosexuelle, Sinti und Roma, „Bibeltreue“, „Asoziale“, Kranke, Zwangsarbeiter, Kriegsgefangene, die Intellektuellen in den eroberten Gebieten und die Zivilisten, die nicht kooperationsbereit waren.

Das Nazi-Regime war auch keine leise Diktatur, wie es die Hinweise auf Bürokratie und Industrialität der Vernichtung nahelegt. Allenthalben wurde gebrüllt und geprügelt „gesäubert“ und „ausgemerzt.“ Die Kranken, die „Irren“, die Behinderten wurden unbarmherzig aus dem „gesunden Volkskörper“ eliminiert. Das NS-Regime inszenierte – wie alle terroristischen Regime des 20. Jahrhunderts – lautstark und militant Bewegung, Auftritt, Kundgebung und Aktivismus der Tat. Bewährung wurde inszeniert vom Jungvolk bis zu Altherrenverbänden, begleitet vom Kundgebungsfuror, von aufputschender Rhetorik, einem täglichen Quantum an Abscheu, Demütigung und Abwertung.

Ein Prof. Dr. Albert Fraenkel konnte in Rohrbach keine Tuberkuloseklinik und auf dem Speyerer Hof kein Mittelstandsanatorium leiten, der Realschüler und begnadete Sportler Max Ru-binstein konnte nicht mehr in der Rugby-Mannschaft mitspielen. Frau Wiesert, die Sozialarbeiterin, war zu entlassen, weil sie Kontakt zu jüdischen Familien hatte: das infiziert nämlich,färbt ab, ist toxisch.

Nach (einigermaßen gesicherter) Auszählung aller biographischen Daten, die wir haben, sind in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 in Heidelberg von SA-Trupps und SA-Stu-dententrupps, ausgehend vom Wrede-Platz, dem heutigen Friedrich-Ebert-Platz, und dem Weststädter Wilhelmsplatz, mindestens 20 Betriebe jüdischer Eigentümer erstürmt und demoliert worden. In einigen Fällen auch deren Wohnungen. Am 10. November beteiligten sich auch zahlreiche HJ-Trupps an den Attacken, die voller Zerstörungslust durch die Straßen zogen. Mindestens 17 Fälle von Überfällen auf Wohnungen sind aktenkundig. Vermutlich waren es deutlich mehr.

Demoliert wurden fünf Kanzleien von sieben Anwälten. Zerstört wurde die Praxis des letzten (als Krankenbehandler tätigen) jüdischen Arztes Dr. Berthold Fuchs in der Bunsenstraße 3. Ausgeraubt, demoliert und schließlich niedergebrannt wurden die Synagogen in der Altstadt und in Rohrbach, ebenfalls demoliert das Bethaus der orthodoxen Gemeinde in der Plöck 35, das Wohnhaus des Synagogenverwalters in der Großen Mantelgasse 3, wahrscheinlich eine oder mehrere Wohnungen der Gemeinde in der Bunsenstraße 3. Demoliert wurde das Schulzimmer der zwangsweise eingerichteten jüdischen Schulklasse in der Pestalozzischule.

Unmittelbar nach der Pogromnacht, am 10. November, wurden jüdische Jugendliche und Männer im Alter von 16 bis 60 Jahren im Gefängnis Fauler Pelz inhaftiert oder von zu Hause abgeführt und – aus unserer Region – in das Konzentrationslager Dachau gebracht. Aus der Gefängnisliste wissen wir, dass dies über 70 Männer waren (und etwa gleich viel aus Umlandgemeinden). Sie teilten das Schicksal von ca. 30 000 jüdischen Männern, die in Dachau, Sachsenhausen und Buchenwald interniert und mehrere Wochen dort brutal und entwürdigend misshandelt wurden. Dutzende haben das nicht überlebt, hunderte haben schwere gesundheitliche Schäden und Traumatisierungen davon getragen. Michael Liebhold, ein Heidelberger Unternehmer, ist wenige Tage nach seiner Rückkehr aus Dachau an den Misshandlungen gestorben. Diese jüdischen Männer und ihre Familien waren zuvor Teil des „guten Bürgertums“, viele der Männer waren Soldaten und Offiziere im Ersten Weltkrieg gewesen, sie brachten ihre militärischen Auszeichnungen ins Gefängnis mit – und waren doch plötzlich wertlos und Objekte brutaler Demütigung. Zählen wir zu den Inhaftierten ihre Familien, die Angehörigen, die Beschäftigten der Betriebe, dann wird deutlich: es betraf alle und jeden.

Übrigens auch der Nachbar, der sich Mund, Augen und Ohren zuhielt, musste davon Notiz nehmen. Der Terror fand im öffentlichen Raum statt, er wurde nicht versteckt und geheim gehalten.

Zur Entlassung aus Dachau mussten die Häftlinge erklären, unverzüglich einen Ausreiseantrag zu stellen, um Deutschland mitsamt Ihren Familien zu verlassen. Das gelang auch 50 der aus Heidelberg in Dachau Inhaftierten mit ihren Familien nach Großbritannien (8), in die USA (über GB 13, direkt in die USA 12) zu entkommen, 15 konnten mit Angehörigen oder alleinnach Südamerika, Palästina und in andere Länder fliehen, vier der Dachau-Häftlinge gelang später noch die Ausreise aus dem Lager Gurs (1940) in die USA.

Viele schafften das aber auch nicht. Sie wurden mit Angehörigen, z.T. auch mit ihren Kindern 1940 nach Gurs und in den Jahren darauf in KZ-Lager, vor allem nach Auschwitz deportiert und dort getötet. Bis in den Februar 1945 folgten Deportationen, nach Auschwitz, Riga und Theresienstadt.

Aber die Frage bleibt doch: Was muss passiert sein, dass dieses gewalttätige Geschehen überhaupt und fast widerstandslos stattfinden konnte.

Warum wurde das Reich, das Land nicht überschwemmt von Anteilnahme, Mitleid, Solidarität, Protest, von Gesten der kirchlichen Nächstenliebe, dem Protest der Humanisten, und der in solidarischen Arbeitskämpfen über Jahrzehnte Gestählten? Vermutlich ist der Eindruck richtig, dass 1938 alles an Widerstand und Opposition schon gebrochen war? Der politische Widerstand ist in den Anfangsjahren des Regimes brutal zerstört worden. Und der gesellschaftliche Widerstand? War dieser nicht schon viel früher, in den Anfangsjahren des Regimes, zermalmt und zerbröselt. Waren in der Bevölkerung: Waren Zustimmung und Enthusiasmus nicht schon verfestigt, die Hoffnung auf Ordnung und Aufstieg generiert, bestanden nicht tausend Motive, sich nicht zu rühren oder mitzumachen. Schließlich bestand der nüchtern kalkulierende Anpassungsdruck, weil ja der Mainstream so lief und man nicht ausgeschlossen sein wollte. Und hatten es die Juden, die „Zigeuner“, die Kommunisten, die „Asozialen“, das „polnische Pack“ nicht doch auch irgendwie verdient? Trotzdem: Wie kommt es dazu, dass so viele die Grenze überschritten. Es war zwar nicht der „Volkswille“, der in den Pogromen die Straßen beherrschten. Sie waren das Werk disziplinierter, gut vorbereiteter Kampfverbände, in manchen Fällen unter Beteiligung einer aufgehetzten Meute. Aber systematisch war es staatlich verordneter Terror, vor allem seitens der HJ-Jugendlichen und der jahrelang eher ausgebremsten SA-Aktivisten. Beschimpft, quält und plündert man deshalb tatsächlich seine Nachbarn, lässt alle Hemmungen fahren? Schlägt zu oder macht billigend mit, wenn das zugelassen oder befohlen wird?

Fehlt nicht etwas bei unseren Versuchen, zu verstehen und zu begreifen, was vor sich gegangen ist. Wie konnte das geschehen, fragen viele der Zeitzeugen und der Verfolgten ein Leben lang, fassungslos.

Wir sollten es uns nicht zu leicht machen mit Erklärungen. Gewiss gibt es massenpsychologische Deutungen, die das Kollektiverleben ins Zentrum stellen und die Wirkungen charismatischer Führungen, fortwährender Propaganda und symbolischer Exzesse ins Zentrum stellen. Ebenso geben die Brutalisierungserfahrungen im Krieg und die männerbündlerischen, soldatischen Gemeinschaften Hinweise auf „Lernprozesse“ der organisierten Barbarei. Wir können eine spezielle Gewichtung staatsautoritärer Gehorsams- und Unterordnungssozialisation, Erziehung zu Stärke, Macht und Militanz, das in Feindseligkeit und Hassgetunkte Konkurrenzverhältnis von landsmannschaftlichen, religiösen und ethnischen Bezugsgruppen ins Feld führen. Das sind durchaus solide, wenn auch nicht wirklich erklärende Hinweise auf die Sozialisationsgrundlagen der exzessiv praktizierten Brutalität. Hier können wir auf der Suche nach Erklärungen, aber tatsächlich aus der Geschichte lernen.

Es braucht – und das ist die These – ein Motiv, das schon im Mittelalter wirksam war und bis ins 19. Jahrhundert in Varianten wirksam blieb, als der Kampf gegen die Juden unweigerlich den scheinbaren Religionskampf mit den düstersten Phantasien verband: Nämlich, dass die Juden gefährlich, lebensgefährlich sind, dass sie Brunnen vergiften und Kinder entleiben, dass sie Hostien schänden und Seuchen erzeugen, dass sie mit dem Teufel und der Sünde im Bund sind, dass sie ganz unten stehen und sich durch Räuberei, gierige Geschäfte und üble Praktiken nach oben winden. Dass man sie ausscheiden muss aus der Menschengemeinde, sie vernichten und ausrotten kann, weil sie unwert sind. Dass sie im Kern Ungeziefer und Unrat sind, vor dem man sich nur ekeln kann.

Diese mentale und emotionale Grundstruktur zieht sich bis zu den rassistischen, sozialdarwinistischen, kolonialen und imperialen Praktiken der Neuzeit und deren Legitimationen. Je tiefer in diesen Wahnbildern die Rassenideologie angesiedelt war, desto konsequenter wurde die Menschenhaftigkeit ihrer Opfer bestritten. Ja, umgekehrt, die Konstruktion des unwerten Menschen, der niederen Rasse, des Auszumerzenden wird zur Voraussetzung der Berechtigung aller Vernichtung. Und zur Voraussetzung der Bereitschaft, daran mitzuwirken.

In welchen Dimensionen, in welchen Segmenten erfolgt dieser Prozess der Entwertung „vor Ort“ und tatsächlich.


Ich nenne elf Bausteine:
Erstens: Da ist das, was die Linguisten das semantische Lexikon nennen, ugs. der Wortschatz. Die Worte, die Begriffe, die Bezeichnungen im Alltag, das was der kluge Romanist Viktor Klemperer die Lingua Tertii Imperii nannte. Verfügbares Vokabular und immer vorhandene Wortschöpfungen für Hass, Abwertung, Diskriminierung, Abscheu und Ekel. Verschwörungserzählungen und mit ihnen verbundene Krankheits- und Überwältigungsängste gehörten damals wie heute ganz selbstverständlich zum Repertoire. Sprache bildet Verhältnisse ab. Und die gibt den Verhältnissen ihre Bezeichnung. Aktuell macht die AfD und das Milieu der sog. Identitären vor, was sagbar ist. Sie verschieben das Denken und den Diskurs und sie schleichen sich ins Denken und die Wahrnehmung der Welt.

Zweitens: Etwas ganz Materielles: Der Raub des Vermögens. Dein Vermögen, deine materiellen Werte, dein Hab und Gut gehört nicht mehr dir. Es gehört dem Staat und der Volksgemeinschaft, du hast es geraubt. Wir wissen von dem kollektiven Enteignungsprozess, der 1933 begann und mit der Vermögenszählung im April 1938 amtliche Gestalt angenommen hat. Der Zugriff auf das „jüdische“ Geld wurde Programm. Ab November 1938 folgten ganz offiziell die endgültige Ausschaltung der jüdischen Menschen aus dem deutschen Wirtschaftsleben, Liquidation und Raub aller ihrer Vermögen. Geschäfte mussten weit unter Wert zwangsverkauft werden, Sperrkonten wurden eingerichtet für das Privatvermögen der jüdischen Menschen, gigantische Sonderabgaben erhoben. Entwertung – das war wörtlich zu nehmen. Verarmung macht wertlos. Wer nichts mehr hat, kann beseitigt werden.

Drittens: Entwertung erfolgte über die Zerstörung sakraler Stätten (Auslöschen, Niederbrennen der geistigen und geistlichen Orte). Das Niederbrennen der Synagogen bedeutet zielgerichtete Entzivilisierung. Es zerstört die Orte von Gläubigkeit, religiöser Kultur, Tradition und Weltbezug. Ihr habt keine geistige und religiöse Würde. Ihr seid kulturell un- und nichtswertig. Euch bewahrt kein Tabu, kein moralischer Standard mehr.

Viertens: Das Feuer tut ein Übriges. Es ist Metapher und Tatsache zugleich. Es ist Auslöschung, die alles zu Staub werden lässt, alles vernichtet, die Orte, die Gebäude, die sakralen Gegenstände, die Thorarollen, die Psalmen- und Gebetsbücher, die Manifestationen der spirituellen Kultur.

Fünftens: Und was ist der „Subtext“ des Pogroms: das Eindringen, Demolieren, Berauben in privaten Räume? Ein öffentliches Spektakel der Aufhebung von außen und innen. Ein Hineindringen in das Innere der persönlichen Existenz. Ein Überschreiten der Tabuschranke von Gewalt, gegenüber alten, behinderten Menschen, Kranken, Kindern, Frauen, Zivilisten. Sich an Angst und Schrecken weiden. Sich unvorstellbar überlegen und mächtig fühlen.

Sechstens: Inhaftierung, Lagerhaft. Auch hier der Subtext: Ihr habt kein Recht auf Freiheit, auf Verfügung über das eigene Leben. Ihr werdet kahl geschoren, in Häftlingskleider gesteckt, ohne Pause geschlagen, angebrüllt, kommandiert, zur Arbeit gezwungen und zu essen kriegt ihr auch nichts. Euer Körper wird ausgelöscht.

Siebtens: Eine dreiste und zugleich subtile Entwertung war übrigens der Zwang, dass jüdische Einwohner für die in der Pogromnacht und danach angerichteten Schäden selbst aufkommen mussten, in dem man ihre Schadensversicherungen kassierte und sie z.B. zwang, auf ihre Kosten den Abtransport des Schutts der zerstörten Synagogen bezahlen zu müssen.Zusätzlich hatte die jüdische Einwohnerschaft des deutschen Reichs in schließlich 5 Raten über 1,2 Milliarden Reichsmark als „Sühneleistung“ für das zu leisten, was an ihren Werten
eben vernichtet worden war.
Die Botschaft: Sowenig ihr eurer „rassischen“ Zuordnung entgehen könnt, sowenig eurer erbsündenhaft grundsätzlichen Schuld an allem, was durch euch an Schaden entsteht.

Achtens: Vom Frühjahr bis zum Sommer 1939 erfolgte für die jüdische Bevölkerung vor Ort die Zwangsablieferung aller Gegenstände aus Platin, Gold und Silber an die städtischen
Leihämter. Mit Ausnahme von Eheringen war alles auf dem Leihamt im Rathaus abzuliefern.
Es waren dies eben alles nicht nur Wertgegenstände. Sie verkörperten Lebensgeschichte, Geschenke, Familienbesitz, Objektkultur mit Erinnerungswert. Wie deutlich ist das Signal: Da
ihr nichts wert seid, gehören euch auch keine Werte im buchstäblichen und tatsächlichen Sinn. Also schleppt sie in Körben und Kisten herbei.

Neuntes: Ein eigentümlich doppelgesichtiges Geschehen stellen die Kindertransporte dar, mit denen von November 1938 bis August 1939 an die 18 000 Kindern die Ausreise vorwie-
gend nach GB ermöglicht wurden. Dies war eine verdienstvolle und engagierte Maßnahme jüdischer Verbände und christlicher Kirchen, die dem NS-Regime abgetrotzt wurde, auch um
internationalen Protesten den Wind aus den Segeln zu nehmen. Zugleich aber bedeutete die Aktion auch, dass Kinder und ihre Eltern getrennt wurden, oft für immer. Die Kinder durften
ein Spielzeug und ein Foto mitnehmen. In der maximal zynischen Sicht des Regimes konnte dies noch als humanitäre Maßnahme verkauft werden. Aber auch hier der Subtext: Die Kinder sind ja längst nicht mehr euer. Wenn ihr sie nicht weggebt, werden sie euern Weg mitgehen müssen. Und wenn ihr sie ziehen lasst, dann habt ihr sie ans Ungewisse verloren. Kann man Kindern, kann man Eltern schlimmeres antun? Aus Heidelberg wurden 36 Kinder durch die Kindertransporte gerettet. Von den 70 Elternteilen dieser Kinder sind 42 in Lagern getötet worden und 6 in Heidelberg gestorben. Nur in
vermutlich 11 Fällen konnten Eltern und Kinder wieder zusammenkommen, vor oder nach Kriegsende.

Zehntens: Ab November 1938 wurde die Entmietung von Wohnraum legalisiert und die jüdische Bevölkerung in sog. Judenhäuser eingewiesen. Die Schutzhülle des eigenen, selbst ge-
wählten Wohnraums wurde dadurch aufgelöst. In Heidelberg wurden in mindestens 16 „Judenhäusern“ über 280 Bewohner eingewiesen, also ca. 80% der noch hier lebenden jüdischen Einwohner. Sie wohnten in drangvoller Enge. Ein Leben in und an Orten der Überwachung und Kontrolle. Ständig bedroht von Ausweisung und Deportation gelang einem Drittel der Bewohner der Judenhäuser die Flucht und Emigration (98), 43 verstarben in Frankreich nach der Oktoberdeportation 1940, 71 in Auschwitz und anderen Tötungslagern oder gelten
als verschollen.

Elftens: Zahllose Maßnahmen bis 1945 sollten für die verfolgten Menschen jedes menschenwürdige Dasein vernichten: Sie liquidierten die Verfügung über Raum, die Zeit, die Bewegung in öffentlichen und privaten Räumen. Fahrzeuge wurden requiriert, die Nutzung des öffentlichen Verkehrs untersagt, ebenso das Betreten von Parkanlagen, extreme zeitliche  Beschränkungen fürs Einkaufen wurden verordnet, der Zugang verboten zu Gaststätten und zu kulturellen Ereignisse wie Ausstellungen, Theater und Kino, auch in Badeanstalten. Kinder wurden ausgeschlossen aus den Schulen, soziale Hilfen entzogen, rechtliche und ärztliche Unterstützung versagt, die Bewegung in der Nacht durch Ausgangsverbote verhindert, anstelle selbst gewählter Arbeit trat Zwangsarbeit.

Die Spirale von Gewalt und Enthemmung gipfelte im Massenmord. Der äußersten und finalen Zuspitzung von Entwertung und Vernichtung. Unumkehrbar.

Es ist eine Enthemmung – und das sage ich im Hinblick auf unsere Aufgaben – der man sich entgegenstellen kann und muss. Das ist unsere Chance, in der Gesellschaft (auch in der Politik) humane, menschliche Maßstäbe zu bewahren und sie offensiv zu verteidigen.

Deshalb müssen wir allem entgegen treten, was die Existenz und das Wohlergehen von jüdischen Bürgern bei uns in Frage stellt. Offen gezeigte Judenfeindschaft und Attacken – das
kann und darf die Zivilgesellschaft nicht hinnehmen. So wenig wie sie die Propaganda ultraradikaler Organisationen hinnehmen kann, die unsere Straßen und unsere Öffentlichkeit zu
Kampfstätten machen wollen. Gemeint sind – neben den hauseigenen Rechtsradikalen und neuvölkischen Ultras auch jene, die den Vernichtungskampf von Hamas, Hisbollah, Huthi
Kampftruppen, des Iran und seinen Verbündeten in unsere Regionen hineintragen und legitimieren. Davon sind legitime politische Proteste und keinesfalls auch die Kritik an militäri-
schen und politischen Maßnahmen nicht berührt. Die jüdische Existenz in Deutschland ist bedingungslos zu schützen. Und die weltweite Propaganda zur Vertreibung und Liquidation
jüdischer Menschen und von Staat und Gesellschaft Israels ist nicht akzeptabel. Wer „from the land to the sea“ brüllt, will einem der allergrößten Menschheitsverbrechen ein Zweites
hinzufügen. Egal, wie das intellektuell verkauft wird. Es ist gut und richtig, dass der Deutsche Bundestag im November 2024 auch die Solidarität mit Israel in seine Resolution gegen Antisemitismus übernommen hat. Auch wenn es zahlreiche, nicht weniger legitime Bedenken gegen einzelne Formulierungen der Resolution geben mag, es ist doch irritierend, das zwei Parteien im deutschen Bundestag das Argument möglicher Zensurmaßnahmen gegen Kunst und Wissenschaften zum Anlass für Enthaltung und Ablehnung nehmen.

Wir müssen nicht minder der Abwertung, der Stigmatisierung, der politischen Dämonisierung von Menschen entgegentreten, die bei uns Hilfe und Zuflucht suchen. Bei allem Disput
über Ordnungs- und Kontrollmaßnahmen und dem Umgang mit Tätern und Attentätern, nichts rechtfertigt die in die politische Mitte hineinreichende Dämonisierung, das Panikvoka-
bular und die impliziten Vertreibungs- und Vernichtungsideologien.

Respekt, Anerkennung, Würde und Wertschätzung, gegenüber Minderheiten, gegenüber Anderen, gegenüber scheinbar nicht normativ gestalteten Lebensentwürfen – das verteidigen
wir als Basis unseres Zusammenlebens. Ein freies, liberales, menschliches Miteinander braucht keine Kampfzonen und kein Vernichtungsdenken. Es braucht Geduld und Augenmaß, eine erkennbare Gelassenheit und die Bereitschaft, schwierige Prozesse und Situationen auszuhandeln.

Das sind und bleiben unsere Aufgaben und Herausforderungen. Nur so wird es ein „Nie wieder“ geben.

„Verteidigt, was ihr noch habt, verteidigt es mit Klauen und Zähnen.“ (Esther Bejarano)

Ich zitiere Esther Bejaranos Appell, gerade weil wir nicht am Abgrund stehen, weil nicht bereits morgen das „Nie wieder“ in ein „Schon wieder“ sich umdrehen wird. Weil wir et-
was zu verteidigen und zu gestalten haben und das auch können: Freiheit, Demokratie, Recht und Gesetz, funktionierende Öffentlichkeit, eine aktive Zivilgesellschaft. Wir können
uns einmischen, ohne in Kerkern und Lagern zu enden. Das sind wir denen schuldig, die den 9. November 1938 erdulden mussten und dann alles das, was an Lebensvernichtung
ihm nachfolgte.