Wilhelm Reichart zur geistigen Krise Europas: Mahnruf eines Philosophen
Am 19.02.2020 im Mehrgenerationenhaus, Heidelberg Rohrbach
Bericht: Sibylle Hofmeyer Fotos: Valentina Schenk
Wachsende Spaltungstendenzen und Fremdenfeindlichkeit prägen die Gesellschaften in Europa. Dass diese Probleme ihren Ursprung im neuzeitlichen Denken haben, zeigte Wilhelm Reichart in seinem Vortrag auf Einladung des „Punker“ im Mehrgenerationenhaus Rohrbach. Vor vollbesetzten Reihen mahnte der Heidelberger Philosoph, sich vom allgegenwärtigen Nützlichkeitsdenken zu verabschieden und die Anstrengung der eigenen Sinnsuche auf sich zu nehmen.
„Ich denke, also bin ich": Mit diesem Grundsatz markiert der Philosoph René Descartes im 17. Jahrhundert einen Meilenstein auf dem Weg in die europäische Neuzeit. An die Stelle des mittelalterlichen Gottesglaubens tritt die menschliche Urteilskraft, die Freiheit und Selbstbestimmung verspricht. Doch es kommt anders. So setzt der Mensch seine Vernunft vorrangig zur Bereitstellung technischer und ökonomischer Mittel ein. Die ideelle Seite, die sich auf den – unbestritten mühsameren – Prozess der Sinnstiftung für Individuum und Gesellschaft konzentrieren sollte, verkümmert.
Strategien zur Ich-Vergrößerung
Mit fatalen Folgen, wie Wilhelm Reichart ausführte. Um in der von Wirtschaft und Technik beherrschten Gegenwart bestehen zu können, nutze der Mensch verschiedene Strategien zur Ich-Vergrößerung: darunter der weitverbreitete Konsum- und Markenfetischismus sowie der intellektuelle, religiöse und politische Eliteanspruch, wie ihn die Lehrinstitutionen, Kirchen sowie Volksvertreterinnen und -vertreter verkörpern. Ganz zu schweigen von der personalen Ich-Vergrößerung, die ein prestigeträchtiger Job oder möglichst viele „Likes & Followers“ auf Social Media zu ermöglichen scheinen!
Doch seien diese Strategien nicht geeignet, die persönliche Sinnstiftung und das Gemeinwohl zu fördern. Im Gegenteil – die Gesellschaft drifte auseinander, während nationalistisch ausgerichtete Gruppierungen aus dem wachsenden kulturellen Unbehagen politisches Kapital zu schlagen versuchen, indem sie die Zuwanderung aus nichteuropäischen Ländern dafür verantwortlich machen. Dabei wird der Prozess der Selbst-Entfremdung durch die Flucht in die Ökonomie, nicht durch Menschen anderer Kulturen und Religionen ausgelöst, betonte Reichart.
Großer philosophischer Gesprächsbedarf
Die anschließende sehr lebhafte Diskussion offenbarte einen großen philosophischen Gesprächsbedarf unter den Zuhörerinnen und Zuhörern. Deutlich wurde, dass die Philosophie keine fertigen Antworten auf die Frage liefert, wie sich ein Mensch in seinem Leben orientieren und es sinnvoll gestalten kann. Doch ist sie unverzichtbar, um Bildungsprozesse anzustoßen, damit sich die dem Nützlichkeitsprinzip verhaftete Industriegesellschaft zur werteorientierten Kulturgemeinschaft entwickelt.